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Gedenktage der deutschen Demokratie – Erinnerungsorte der demokratisch-politischen Bildung

Ein Gespräch mit Barbara Menke zum Jahr 2019

Barbara Menke, Vorsitzende bapBarbara Menke, Vorsitzende des Bundesausschusses politische Bildung (bap)
© bap e.V. Foto: Jörg Carstensen
„Im Jahr 2019 werden wir darauf aufmerksam, dass Verfassungen, die wir feiern, nicht nur klug beschriebenes Papier sind, sondern konkret erlebte erkämpfte und erlittene historische Erfahrung,“ so beschreibt Barbara Menke, Vorsitzende des Bundesausschuss Politische Bildung (bap), in einem Gespräch mit bap-Medien die Herausforderungen für die politische Bildung im Jahr 2019 mit einer Fülle von Gedenk- und Jahrestagen, die unsere Gesellschaft gestaltet und nachhaltig geprägt haben. Sie verbindet das mit Einschätzungen zu den Ereignissen und Verfassungen, denen gedacht wird, und beschreibt Aufgaben für die politische Bildung.

Drei deutsche Verfassungen feiern in diesem Jahr Geburtstag: Die Paulskirchenverfassung ist 170 Jahre alt. Wir denken an die Weimarer Reichsverfassung, die vor 100 Jahren beschlossen und verkündet wurde. Wir begehen den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes, das auch die demokratische Verfassung des nach 1989 wiedervereinten Deutschland geworden ist. Damit feiern drei Gründungsdokumente der Demokratiegeschichte und demokratischer Realität in Deutschland Jubiläen. Dazu noch 30 Jahre Mauerfall, ebenso ein wichtiger Gedenktag. Anlass genug für Fragen an Barbara Menke, Vorsitzende des Bundesausschuss Politische Bildung (bap), den Zusammenschluss der bundesweit tätigen Trägerorganisationen der politischen Bildung in Deutschland, zum Thema Gedenktage für die deutsche Demokratie.

Bap-Medien: Frau Menke, dass wir uns an den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes erinnern, liegt nah, aber warum nach 170 Jahren auf die Paulskirche in Frankfurt am Main schauen, noch dazu auf eine Verfassung, die wie die von 1849 nie in Kraft getreten ist?

Antwort: So richtig es ist, dass die Verfassung, die sich das Paulskirchen-Parlament gegeben hat, nie politische Realität wurde, so wichtig ist aber auch festzuhalten, dass hier zum ersten Mal auf deutschem Boden unveräußerliche Grund- und Menschenrechte kodifiziert wurden und zwar nicht nur für herausgehobene Eliten, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger.

Gerade in einer Zeit, in der Grund- und Menschenrechte nicht nur in entfernten Ländern, sondern ganz in unserer Nähe - in Europa, auch in der EU, in der Gefahr stehen, empfindlich eingeschränkt oder gar beseitigt zu werden, ist es gut, sich daran zu erinnern. Vergessen Sie bitte nicht, dass selbst bei uns in der Bundesrepublik die universale Bedeutung der Menschenrechte, die sich etwa im Asylrecht äußert, von nicht wenigen angezweifelt wird und hinter vorgeblich nationalen Interessen zurücktreten soll.

Bap-Medien: Und warum nach 100 Jahren auf die Republik von Weimar mit ihrer Verfassung zurückblicken?

Antwort: An und in dieser ersten deutschen Demokratie haben zum ersten Mal Frauen politisch aktiv mitgewirkt. Seit 100 Jahren gibt es das Frauenwahlrecht in Deutschland. Ich meine, das allein ist schon ein guter Grund zu gedenken; Grund genug, sich zu erinnern an heute vergessene Frauen wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann aus der bürgerlich-freisinnigen Frauenbewegung oder die Sozialdemokratin Marie Juchacz, die erste Frau, die in der Weimarer Nationalversammlung eine im Übrigen heute noch lesenswerte, sehr selbstbewusste Rede hielt.

Was die Weimarer Reichsverfassung betrifft, so liegt eine besondere Bedeutung dieser Verfassung in der Festschreibung sozialer Grundrechte. Auch wenn die Republik, der sie den Rahmen gab, scheiterte, so ist doch der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland ohne das Weimarer Vorbild nicht denkbar.

Demokratie ist ja nicht nur eine Staats- und Regierungsform, sie setzt darüber hinaus maßgebende Prinzipien für das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben der Menschen. Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieb, staatliche Absicherungen über Sozial - und Rentenversicherung gehören konstitutiv dazu. Das nennt man Soziale Demokratie. Dazu hat die Weimarer Reichsverfassung einen starken und nachhaltigen Beitrag geleistet. Angesichts der aktuellen Lage in Deutschland ist es sicherlich nicht von Schaden, wenn sich politische Bildung mit den grundlegenden sozialen Stützen einer tragfähigen Demokratie befasst.

Die Weimarer Reichsverfassung hat im Artikel 148 auch der Erwachsenenbildung Verfassungsrang gegeben, was gerade Weiterbildnerinnen und -bildner wie wir nicht vergessen sollten.

Bap-Medien: Dann scheint ja gerade das Schicksal des Misserfolgs respektive des Scheiterns, das die beiden Verfassungsdokumente begleitete, ein guter Grund zu sein, sich zu erinnern?

Antwort: Da haben Sie vollkommen recht! Für uns in Deutschland, das auch als Ergebnis der gescheiterten Revolution von 1848/49 eine „verspätete Demokratie“ war. Vielleicht mussten wir sogar deshalb die Erfahrungen von Diktaturen machen. Eine dieser Diktaturen führte sogar in einen Zivilisationsbruch, in dem wir als Nation besonders durch den Mord an den europäischen Juden schwerste Schuld auf uns geladen haben. Das Scheitern Weimars und die Brutalität der NS-Diktatur erinnern uns daran, was passieren kann, wenn die Demokratie zu viele Feinde und zu wenige echte Verteidiger hat.

In diesem Zusammenhang hat politische Bildung die spezielle Aufgabe in ihrer pädagogischen und erinnerungskulturellen Arbeit darauf hinzuweisen, dass Demokratie aus leidvoller historischer Erfahrung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine ständige Aufgabe, die überzeugte und engagierte Freunde und Anhänger dringend nötig hat.

Bap-Medien: Das ist sicher richtig - wie Sie aber zugeben müssen, auch sehr abstrakt. Muss politische Bildung, wenn sie ihre Teilnehmenden für die demokratische Sache einnehmen will, nicht sehr viel anschaulicher sein, muss sie nicht auch darstellen, wann und auf welche Weise Demokratie konkret verteidigt, gelebt und wirksam weiterentwickelt wird?

Antwort: Gerade deshalb ist es wichtig, dass politische Bildung das Feld der Geschichte, also die politisch- historische Bildung, nicht vernachlässigt: Zum einen, weil wir viele Dinge schlicht nicht verstehen, wenn wir nicht ihre „Geschichte“ kennen. Noch wichtiger ist: durch die Beschäftigung mit Geschichte können wir ansonsten anonyme Prozesse und gesichtslose Massenereignisse mit konkreten Biografien und mit Lebensschicksalen verbinden. Entwicklungen bekommen ein Gesicht, mit dem wir uns identifizieren oder von dem wir uns distanzieren können und wir verstehen besser, was geschehen ist.

Wie man dieses Anliegen „rüberbringen“ kann, hat - wie ich meine - unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zur Novemberrevolution 1918 am 9. November letzten Jahres in exemplarischer Weise getan. Er hat eine Reihe von Persönlichkeiten der Weimarer Zeit beim Namen genannt; Persönlichkeiten, die aus unterschiedlichsten politischen Richtungen kommend und - wie bei Matthias Erzberger, Walter Rathenau, Friedrich Ebert und Kurt Eisner zum Teil unter Einsatz ihres Lebens - für Demokratie und ihre Weiterentwicklung eingestanden sind. Ihr persönliches Beispiel muss die politisch- historische Bildung, wenn Sie so wollen, als pars pro toto für die jüngeren Generationen lebendig machen und lebendig halten. Das Handeln dieser Personen, ihre Weitsicht, aber auch ihre Irrungen und zeitbedingten Fehler bieten reichliche Anschauung auch für die Demokratie in unserer Zeit. Gewiss hat man dann kein fertiges Rezept in der Hand, aber doch einen Möglichkeitsraum für unser eigenes demokratisches Reflektieren und Handeln.

Bap-Medien: Und dafür ist das Gedenkjahr 2019 geeignet?

Antwort: In ganz besonderer Weise sogar! Bedenken Sie, 2019 jährt sich zum 75ten Mal auch das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler. Politische Bildung hat die Möglichkeit - und sollte dies auch tun - den Jüngeren unter uns den deutschen Widerstand in seiner ganzen Breite, aber auch in seiner fast hoffnungslosen Existenz als verschwindende Minderheit in einem von allen guten Geistern verlassenen Volk nahe zu bringen. Das Handeln der Männer und Frauen dieses Widerstands, die gewiss nicht alle, nicht einmal in ihrer Mehrheit, lupenreine Demokraten waren, ganz konkret zu beleuchten. Die Herausforderung liegt darin, diese Frauen und Männer lebendig darzustellen in ihrem letztlich humanen, grundrechtlichen Anspruch, das "Bild des Menschen und seiner Würde in den Herzen der Deutschen wiederherzustellen", wie es Helmuth James Graf von Moltke so unnachahmlich treffend auf den Begriff gebracht und wie es die junge Sophie Scholl in ihrem Handeln und ihren Aussagen vor dem Volksgerichtshof so mutig vorgelebt hat.

Bap-Medien: Wie passt der 9. November 1989 in diesen Kontext?

Antwort: Er ist ein weiterer Höhepunkt deutscher Demokratieentwicklung! Denn es waren ja die Frauen und Männer in Leipzig, in Dresden, Plauen, Chemnitz und anderenorts in der DDR, die - und hier zitiere ich wieder unseren Bundespräsidenten - mit ihrer Friedlichen Revolution das Ende einer Diktatur eingeleitet und den Weg zur Wiedervereinigung unseres Landes bereitet haben. Die Aufgabe der politischen Bildung in diesem Jahr und auch in Zukunft besteht darin, an den Mut und Freiheitswillen der damaligen Akteure auch in durchaus persönlichen Porträts zu erinnern und einige von ihnen für Begegnungen vor allem mit jüngeren Menschen in politischen Bildungsveranstaltungen zu gewinnen.

Bap-Medien: Was bleibt, so frage ich mich, angesichts dieser Fülle an Anstößen noch als Aufgabe für das Erinnern an den Geburtstag unseres Grundgesetzes?

Antwort: Ohne die Erinnerung an 70 Jahre Grundgesetz, denke ich, wird das Jahr 2019 als Gedenkjahr für die deutsche Demokratie nicht rund. Unser Grundgesetz ist so etwas wie die "geglückte Summe" aus den beiden vorauslaufenden Verfassungen, der von Frankfurt am Main und der von Weimar. Und es verkörpert darüber hinaus - der ehemalige Bundespräsident, Gustav Heinemann hat das gesagt - "die erlittene Erfahrungsweisheit der besten unserer Vorfahren".

Genau das macht das Jahr 2019 als Gedenkjahr so besonders wichtig für die politische Bildung: Es weist uns darauf hin, dass die Verfassungen, die wir feiern, nicht nur klug beschriebenes Papier sind, sondern konkret erlebte erkämpfte und erlittene historische Erfahrung. Unmittelbar damit verbunden kommen nämlich diejenigen in unser Blickfeld, denen wir über eine Strecke von fast zwei Jahrhunderten unser heutiges demokratisches Staatswesen und die humanen Prinzipien unseres Zusammenlebens verdanken: den Bürgern und Handwerkern der Revolution von 1848, den mutigen Frauen, die für ihr Wahlrecht stritten, den Herzensrepublikanern der Weimarer Republik, dem Widerstand gegen Hitler und nicht zuletzt den Frauen und Männern der friedlichen Revolution von 1989. Politische Bildung in Deutschland steht in dieser Tradition. Sie ist ein verlässlicher Kompass für die pädagogische Arbeit in schwieriger werdenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen.

Unser Grundgesetz selbst ist darüber hinaus, um noch einmal Gustav Heinemann zu zitieren, das "große Angebot zum ersten Mal in Deutschland eine freiheitlich-rechtsstaatliche und soziale Demokratie zu verwirklichen." Diese sei, so Heinemann weiter, "gegenüber Gegnern mit Zähnen und Klauen zu verteidigen". Aber, so schränkte er ein, man müsse sich auch vor übereifrigem und übersteigertem Schutz hüten, "der das, was wir schützen wollen, erstickt oder unansehnlich macht."

Hier sehe ich ganz persönlich im Gedenkjahr 2019 eine große Herausforderung für die politische Bildung: politische Bildung in ihrem Einsatz für Demokratie muss in ihrer pädagogischen Arbeit getreu dem Beutelsbacher Konsens Andersdenkende auch in ihrer Kritik an der Wirklichkeit und den vorhandenen Schattenseiten unserer demokratischen Gesellschaft wahr- und ernstnehmen, sie muss aber andererseits auch sensibel registrieren und entschieden einschreiten, wenn sie die roten Linien eines freiheitlichen, friedlichen und toleranten Demokratiebewusstseins überschritten sieht und sich Andersdenkende als Feinde der Demokratie entpuppen.

Bap-Medien: Frau Menke, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 


 

Zur Person: Barbara Menke ist Vorsitzende des Bundesausschusses Politische Bildung (bap) e.V. und Bundesgeschäftsführerin von Arbeit und Leben.

Zum bap - Bundesausschuss Politische Bildung: Der Bundesauschuss Politische Bildung (bap) e.V. ist ein Zusammenschluss der bundesweiten Verbände der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Gemeinsames Ziel der im Bundesausschuss versammelten Organisationen ist, sich für eine Stärkung und Weiterentwicklung politischer Jugend– und Erwachsenenbildung zu engagieren und die Interessen dieses Arbeitsbereichs gegenüber Politik, Behörden und der Gesellschaft zu vertreten. Der bap wird für seine Arbeit durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus Mitteln des Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP) gefördert.

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Herausgeber: Bundesausschuss Politische Bildung e.V. - presserechtlich verantwortlich: Barbara Menke c/o BAK Arbeit und Leben, Robertstr. 5a, 42107 Wuppertal

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